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Handlung

Der SS-Obersturmführer Kurt Gerstein versucht im Sommer 1942 in der Apostolischen Nuntiatur in Berlin mit Unterstützung des Jesuitenpaters Riccardo Fontana den Nuntius zu überzeugen, gegen die Judenvernichtung zu protestieren. Gerstein war kurz zuvor in den Vernichtungslagern Belzec und Treblinka Augenzeuge des Massenmords an Menschen in Gaskammern geworden und handelt offenbar aus persönlicher Erschütterung. Der päpstliche Vertreter verweist jedoch auf fehlende Befugnisse. In einer Kegelszene unter Nationalsozialisten wird die Gestalt des „Doktors“ exponiert, der medizinische Experimente in Auschwitz durchführt. Riccardo Fontana besucht Gerstein in dessen Wohnung und gibt seinen Pass und seine Soutane an Jacobson, einen Juden, dem der SS-Offizier Unterschlupf gewährt.

Wenig später spricht Riccardo zusammen mit seinem Vater im Vatikan vor, um dort auf einen Protest gegen den Holocaust hinzuwirken. Ein Kardinal betont, die Kirche befinde sich in der Stellung einer Vermittlerin. Zudem sei angesichts der Bedrohung des Christentums durch die Sowjetunion Neutralität geboten. Unterdessen werden die italienischen Juden deportiert. Ein Kardinal besucht ein Kloster, das privilegierten Juden Unterschlupf gewährt. Riccardo und Gerstein betrachten diese Maßnahmen jedoch als unzureichend. Riccardo möchte den Generalabt überzeugen, sich des vatikanischen Rundfunks zu bemächtigen, um Aufforderungen zum Protest auszustrahlen. Dieser lehnt jedoch ab.

In einer Konfrontation mit dem Papst erhebt Riccardo implizit schwere Vorwürfe: „Gott soll die Kirche nicht verderben, nur weil ein Papst sich seinem Ruf entzieht.“ (Rolf Hochhuth: Der Stellvertreter. Reinbek 1963. S. 292). Angesichts des ergebnislosen Gesprächs äußert Riccardo die Absicht, nach Auschwitz zu gehen. Schließlich könne ein Priester als Stellvertreter des Papstes fungieren, wenn der Pontifex Christus auf Erden vertrete. Der Papst schweigt erschüttert angesichts der Düpierung.

In Auschwitz trifft Riccardo auf den zynischen Lagerarzt, der ihn in der Rolle des vergeblichen Gottesforschers sieht: „Sie sterben hier, wenn Sie’s nicht lassen können, wie eine Schnecke unterm Autoreifen – sterben, wie halt der Held von heute stirbt, namenlos und ausgelöscht von Mächten, die er nicht einmal kennt, geschweige denn bekämpfen könnte.“ (S. 326f.) Gerstein will den Pater retten und verlangt, dass der Doktor an seiner Stelle Jacobson mitnehme, doch lässt der Arzt den Geistlichen erschießen. In einem Ausblick wird deutlich, dass sich der Papst bis zum Kriegsende öffentlich nicht demonstrativ gegen die Deportation der Juden in die Vernichtungslager äußert.

Kritik

Hochhuth reichte das Drama Der Stellvertreter, an dem er seit einem dreimonatigen Arbeitsurlaub 1959 in Rom gearbeitet hatte, 1961 zunächst beim zu Bertelsmann gehörenden Verlag Rütten & Loening ein. Der Verlag der Bertelsmann-Verlagsgruppe, bei dem er als Lektor beschäftigt war, stoppte den Druck jedoch aus Rücksichtnahme auf seine katholische Leserschaft. Ein Skript wurde an den Rowohlt Verlag weitergeleitet, der es zwei Jahre später zeitgleich mit der Uraufführung veröffentlichte.

Die Uraufführung des „christlichen Trauerspiels“ im West-Berliner Theater am Kurfürstendamm (Haus der Freien Volksbühne) am 20. Februar 1963 durch den Intendanten Erwin Piscator löste die bis dahin größte und weitestreichende Theaterdebatte der Bundesrepublik Deutschland aus und sorgte für internationale Kontroversen. Inszenierungen des Stücks führten zu Auseinandersetzungen und Tumulten in mehreren europäischen Ländern. Die österreichische Erstaufführung am Wiener Volkstheater sorgte sogar für Handgreiflichkeiten im Parkett. Der Theaterdirektor Leon Epp unterbrach die Premiere, um selbst auf die Bühne zu steigen und zu verkünden: „Jeder, der dieser Aufführung beiwohnt, möge sich doch fragen, ob er nicht an den hier geschilderten Dingen irgendwie mitschuldig gewesen ist.“ Für eine Inszenierung am New Yorker Broadway (Brooks Atkinson Theatre, 26. Februar 1964, 316 Aufführungen) wurde Produzent Herman Shumlin mit einem Tony Award ausgezeichnet. Bis 1966 verbat sich Hochhuth eine Aufführung seines Stücks in Ostblock-Staaten aus Sorge vor einer plakativ anti-katholischen Interpretation.

Beträchtliches Konfliktpotential bezog Hochhuths fiktionaler Text sowohl aus seinen kontroversen Thesen, darunter die Brandmarkung eines unterstellten ökonomischen und antikommunistischen Kalküls des Papstes sowie die Übertragung der päpstlichen Stellvertreterfunktion auf den Märtyrer Riccardo Fontana als auch aus der historischen Authentizität, die der Autor durch seine Recherchetätigkeit und die Darstellung einzelner Personen der Zeitgeschichte beanspruchte. Im Laufe der sogenannten „Stellvertreter-Debatte“ verteidigte die Philosophin Hannah Arendt das Drama mehrfach, unter anderem in dem Beitrag The Deputy: Guilt by Silence? in der US-amerikanischen Ausgabe der New York Herald Tribune vom 23. Februar 1964, in der sie im Kontext von Herman Shumlins Broadway-Inszenierung ausführlich zu Hochhuths Theaterstück und dem geschichtlichen Hintergrund Stellung nahm. In ihrem Briefwechsel mit Mary McCarthy hatte Arendt zuvor im Oktober 1963 die künstlerische Qualität des Stückes kritisiert, aber die Legitimität der Fragestellung betont:

„Das Stück ist nicht gut, aber die Frage, die Hochhuth aufwirft, ist sehr legitim: Warum hat der Papst nie öffentlich gegen die Verfolgung und schließlich den Massenmord an den Juden protestiert? Er kannte die Einzelheiten, und das hat, soviel ich weiß, nie jemand bestritten.“ Der Osservatore Romano habe diese Frage in Misskredit bringen wollen, indem er behauptete: „‚Wenn Hochhuths These stimmt, dann waren es nicht Hitler, Eichmann oder die SS, die für all die Verbrechen verantwortlich waren, sondern es war der Papst Pius.‘ […] Das war natürlich glatter Unsinn, und H. [Hochhuth] hat niemals etwas derartiges gesagt […] Was der Vatikan […] zu tun versuchte, war, an die Stelle des wirklichen Problems, eine absurde, leicht abzuschmetternde Behauptung zu setzen. Denn es ist natürlich keine Frage, dass eine öffentliche Stellungnahme durch den Papst […] ein Faktor von größter Bedeutung gewesen wäre, in Deutschland selbst, aber besonders in den von den Nazis besetzten Ländern.“

– Arendt an McCarthy, 3. Oktober 1963. In: Hannah Arendt. Mary McCarthy: Im Vertrauen. Briefwechsel 1949-1975. München 1995. S. 239.

Hochhuth schrieb zur Darstellung der Verantwortung im Drama allgemein:

„Das Theater wäre am Ende, wenn es je zugäbe, dass der Mensch in der Masse kein Individuum mehr sei… Das ist doch eine der wesentlichen Aufgaben des Dramas: darauf zu bestehen, so unpopulär das momentan auch klingt, dass der Mensch ein verantwortliches Wesen ist.“

– Hochhuth, „Das Absurde in der Geschichte“, in „Theater heute. Chronik und Bilanz des Bühnenjahres.“ 1963 S. 73ff; unter dem Titel Die Rettung des Menschen wieder in Frank Benseler, Hg. Festschrift Georg Lukács zum 80. Geb., Luchterhand, Neuwied 1965, S. 484ff., hier S. 485f.

Werner Mittenzwei bezeichnete den „Ausgangspunkt des Stückes“ als „bewundernswert“ und sah in Der Stellvertreter ein „mutiges Stück“. Zugleich kritisierte er aber Hochhuths Fokussierung auf das Individuum und sein Verkennen gesellschaftlicher Verhältnisse. Laut Mittenzwei vermochte der Autor nicht, „diese Momente [...] zu wirklichen dramatischen Drehpunkten seines Fabel- und Figurenaufbaus zu machen“. Ähnlich äußerte sich der Kritiker auch zu anderen Stücken Hochhuths.

Bis 1975 erschienen 7.500 Veröffentlichungen zum Stellvertreter. Anders als die außerordentlich breite öffentliche Debatte konzentrierte sich die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Hochhuths Stück weniger auf inhaltliche als vielmehr auf gattungstheoretische Fragestellungen. Die Kontroverse um die Kategorien der dokumentarischen Literatur und des dokumentarischen Theaters hält an. Der Stellvertreter wurde weltweit in über 80 Städten gespielt. Obwohl das Stück seit den achtziger Jahren nur sporadisch inszeniert wird, hat manche der späteren Inszenierungen am Burgtheater Wien 1988, am Frankfurter Theater im Zoo 1992 oder am Berliner Ensemble 2001 erneut zu Protesten und Strafanzeigen gegen Stück oder Werbematerialien geführt.

Ungeachtet des von Hochhuths Schauspiel ausgehenden Verdikts eröffnete Papst Paul VI. 1965 den Seligsprechungsprozess für Pius XII. Als Voraussetzung für die Seligsprechung Pius’ XII. votierte die zuständige Kongregation für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse im Mai 2007 zugunsten des „heroischen Tugendgrades“ des Papstes, der von Papst Benedikt XVI. im Dezember 2009 bestätigt wurde. In einer Predigt anlässlich des 50. Todestages von Pius XII. hob der Papst am 9. Oktober 2008 im Kreise der Teilnehmer einer Bischofssynode die Leistungen seines Vorgängers hervor und verteidigte ihn gegen Kritik. „Da muss man, glaube ich, wirklich erkennen, dass er einer der großen Gerechten war, der so viele Juden gerettet hat wie kein anderer“, sagte der Papst etwa in dem Interviewband Licht der Welt (2010) im Gespräch mit Peter Seewald.

Hochhuth ergänzte:

„Natürlich hat man sich schon manchmal gefragt, wie konnte denn der, der im Ernst glaubt, er sei Stellvertreter Christi auf Erden, zu Auschwitz die Schnauze halten. Obwohl ja auch in Rom, unter den Fenstern des Vatikans, viele italienische Juden zur Tötung nach Auschwitz gebracht worden sind.“

– Hochhuth: SWR2 Kultur Aktuell: Der Schriftsteller und Dramatiker Rolf Hochhuth ist tot, 14.5.2020

und fasste zusammen:

„Die Frage des Stellvertreters ist: Warum schweigt ausgerechnet der Papst dazu? Der Papst, der von Hitler gar nichts zu fürchten; Hitler hat ihn gefürchtet, seinen Einfluss.“

– Hochhuth: „Eins zu Eins. Der Talk – In memoriam Rolf Hochhuth, Dramatiker“, März 2016

Der 1978 zum Westen übergelaufene ehemalige General der rumänischen Securitate, Ion Mihai Pacepa, gab 2007 in der konservativen US-Zeitschrift National Review an, dass er zusammen mit anderen Spionagechefs des Ostblocks dem Ruf Pius XII. habe schädigen wollen und dass er dafür – den als Schriftsteller damals allerdings noch unbekannten Gütersloher Verlagslektor – Rolf Hochhuth instrumentalisiert habe. Hochhuth wies diese Vorwürfe zurück.

Siehe auch: Pius XII.#Kenntnisse vom Holocaust

Die vollständige Öffnung der vatikanischen Archive in Rom seit dem Jahr 2020, was Materialien angeht, die mit Pius XII. in Verbindung stehen, hat der Forschung einige neue Materialien zugänglich gemacht, aus denen hervorgeht, dass Pius XII. schon vor Kriegsbeginn im Vatikan ein eigenes Büro zur Bearbeitung von Anfragen verfolgter Juden eröffnen ließ und sich selbst fast täglich mit solchen brieflichen Hilfsanfragen beschäftigt hat. Mehrere tausend solcher Anfragen sind archivarisch dokumentiert. Daraus wird teilweise die Notwendigkeit einer Neubewertung von Hochhuths Thesen abgeleitet. Dank der Recherchen des Kirchenhistorikers Hubert Wolf, so Sven Felix Kellerhoff, sei „nun zum 80. Jahrestag der wohl wichtigsten Weihnachtsansprache aller Zeiten [1942] klar, dass Hochhuths Interpretation den Fakten widerspricht“.

 

 

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